
Mineralisches Bauen steht in der Kritik. Vor allem der Jahrhundertbaustoff Beton bereitet Sorgen beim Klimaschutz. Industrie und Wissenschaft treiben nun die Dekarbonisierung des Baumaterials voran. Von Elke Hildebrandt
Wir werden den Baustoff Beton gründlich überdenken müssen. Der darin enthaltene Zement gilt als „Klimakiller“. Das pulverartige Material, das Sand, Kies und Wasser wie ein Klebstoff zu Beton verbindet, ist für 6 bis 8 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ein Dilemma für die Bauindustrie, denn Beton ist nicht nur reichlich vorhanden, sondern gleichzeitig erschwinglich, lokal verfügbar und kann auf unzählige Arten verwendet werden.
Nach Angaben der Global Cement and Concrete Association (GCCA) ist Beton der weltweit am meisten verwendete Baustoff. Mehr noch, nach Wasser ist es der am häufigsten von Menschenhand verwendete Stoff überhaupt. Wenn die globalen Treibhausgasemissionen zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels gegen 2050 auf netto null fallen müssen, wird sich das begehrte Baumaterial quasi neu erfinden müssen.
Eine Überprüfung der gesamten Wertschöpfungskette ist erforderlich
„In den nächsten Jahren müssen wir jetzt dringend einen zusätzlichen Fokus auf die Treibhausgasemissionen des Bauwerks legen“, fordert die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Gut ein Drittel aller Treibhausgasemissionen eines Gebäudes entstehen laut DGNB vor der tatsächlichen Nutzung, also bei Herstellung und Errichtung. Um die verbauten Emissionen, die sogenannte graue Energie, zu verringern, gehörten Bauweise, Bauteile mit großer Masse sowie die Nutzungsdauer der Baustoffe auf den Prüfstand. Mitwirkende der gesamten Wertschöpfungskette sind gefordert – beginnend bei Planern und Architekten. Aber wie kann eine klimaneutrale Bauweise mit Beton gelingen?

Die Dekarbonisierung des Betons soll den CO2-Footprint reduzieren
„Den Beton neu denken, das fängt beim Zement an“, sagt Nicolas Schnabel, Pressesprecher beim Baustoffproduzenten Holcim Deutschland. Es geht vor allem um CO2-effiziente Rezepturen und eine nachhaltige Produktion. Problematisch, so Schnabel, sei vor allem der Zementklinker, ein Vorprodukt der Zementherstellung. Durch das Brennen des Klinkers werde unvermeidbar CO2 freigesetzt. Insgesamt entfallen rund zwei Drittel der Emissionen auf diesen chemischen Prozess und rund ein weiteres Drittel entsteht durch das Brennmaterial, mit dem der Klinker auf rund 1.450 Grad erhitzt wird. Für die Herstellung einer Tonne Zement werden in Deutschland 600 Kilogramm CO2 veranschlagt, für den Kubikmeter Beton sind es 200 Kilogramm.
Durch Energieeffizienzmaßnahmen, den Einsatz von klimafreundlicheren Brennstoffen und neue Zementsorten hat die deutsche Zementindustrie die Emissionen pro Tonne Zement seit 1990 um rund 22 Prozent reduziert. Vor allem innovative Zementmixturen mit reduziertem Klinkergehalt verursachen deutlich kleinere CO2-Fußabdrücke. Interessant für die Nachhaltigkeit von Gebäuden ist dabei, dass Beton, der mit dem Produktlabel des Concrete Sustainability Council ausgezeichnet ist, seit dem Jahr 2018 bei der DGNB-Zertifizierung positiv berücksichtigt wird.
In Pilotanlagen wird die Produktion von klimaneutralem Beton getestet
In der „CO2-Roadmap für die deutsche Zementindustrie“ spielt auch das Abscheiden der Emissionen eine entscheidende Rolle für die weitere Dekarbonisierung von Beton. Das in Zementwerken gewonnene CO2 soll künftig zur Herstellung neuer Produkte eingesetzt oder langfristig gespeichert werden, um die Atmosphäre zu schützen. Erste Pilotanlagen zur CO2-Abscheidung gehen bei Heidelberg Cement und Holcim Deutschland an den Start.
Beide Unternehmen gehören zu den Unterzeichnern der internationalen „GCCA-Roadmap for Net Zero Concrete“ und haben sich verpflichtet, bis 2050 Netto-null-Beton zu produzieren. „CO2-Abscheidung ist ein wichtiger Eckpfeiler zur Erreichung der nationalen und internationalen Klimaziele“, sagt Dominik von Achten, Vorstandsvorsitzender von Heidelberg Cement.
Mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft könnte Beton auch selbst Teil der Lösung sein. Das Prinzip der Carbonatisierung wird etwa in einer Pilotanlage von Neustark genutzt, einem Spin-off der ETH Zürich. Recyceltes Betongranulat wird dort zu neuem Beton verarbeitet. Die zusätzliche Anreicherung und Versteinerung von klimaschädlichem Kohlendioxid im recycelten Betongranulat funktioniert dabei als Umkehrung des chemischen Prozesses, wie er bei der Zementherstellung abläuft. „Mittelfristig wollen wir unsere Technologie so weiterentwickeln, dass dem Beton so viel gespeichertes CO2 zugeführt wird, dass die Emissionen, die mit der Zementproduktion entstehen, komplett rückgängig gemacht werden. Damit wäre es ein klimaneutraler Beton“, erklärt Valentin Gutknecht, CEO von Neustark.

Weniger ist mehr: Neue Bauverfahren verfolgen die Idee einer Beton-Diät
Mit alternativen Konstruktionen wie Skelett-Tragwerken sind Gebäude in der Lage, Material einzusparen und so ihren CO2-Footprint zu reduzieren. Vorgespannte Flach- und Hohldecken etwa können mit bis zu 50 Prozent weniger Beton und bis zu 75 Prozent weniger Stahl auskommen. Auch Infraleichtbeton punktet beim Klimaschutz. Er wird zum Beispiel bei monolithischen Bauteilen von Wohngebäuden eingesetzt. Dank seiner porösen Gesteinskörnung hat er weniger Gewicht und damit eine niedrigere CO2-Belastung. Einen zusätzlichen Vorteil bieten seine Lufteinschlüsse für die Wärmedämmung.
Für Bauherren und Planer dürfte es interessant sein, zukunftsweisende Pilotprojekte mit klimafreundlicheren Betoninnovationen im Blick zu behalten. Das Cube in Dresden ist ein solcher Prototyp und gilt weltweit als das erste Carbonbetongebäude. Die deutlich schlankere Konstruktionsweise wird durch eine nicht rostende Carbonbewehrung ermöglicht, die den herkömmlich eingebetteten Stahl ersetzt. Thorsten Hahn, CEO von Holcim Deutschland, erklärt: „Mit Carbonbeton kann der CO2-Fußabdruck eines Bauteils um bis zu 75 Prozent reduziert werden.“ Carbonfasern, so eine weiterführende Idee, könnten aus natürlichen Abfallprodukten hergestellt und klimaneutral produziert werden.
Einen anderen Ansatz verfolgt ein neues Bauverfahren mit Gradientenbeton. Werner Sobek, Professor am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (Ilek) an der Universität Stuttgart, erforscht die Technologie. Das Prinzip dabei: Gradientenbeton verfügt über unterschiedliche Dichten, vergleichbar dem Aufbau eines Knochens. Durch die gezielt erzeugte Porosität kann in Bauteilen erhebliches Material und Gewicht eingespart werden, was sich positiv auf Energie und Emissionen auswirkt. Erstmals wird der „Knochenbeton“ bei einem Gebäude in der Hamburger Hafencity zum Einsatz kommen.
Auch Bakterien und Pilze könnten den fein gemahlenen Zement ersetzen
Für CO2-neutrale und ressourceneffizientere Baustoffe kommen sogar lebende Organismen infrage. Bei der Erforschung von Biobeton setzen „Bakterien einen Prozess in Gang, an dessen Ende Calciumcarbonat-Kristalle ausgefällt werden, die einen Verbund mit der Gesteinskörnung bilden“, erklärt Christoph Nething, Mitarbeiter des Ilek an der Universität Stuttgart, und ergänzt: „Bei der Bildung dieser Kristalle wird kein CO2 freigesetzt, sondern gebunden.“
Pilzorganismen gelten für die Entwicklung neuer Baustoffe ebenso als vielversprechend. Wird ein Pilzmyzel eingesetzt, durchwächst es ein Material sehr schnell mit seinen Fäden, bis daraus nach einigen Tagen ein festerer Stoff entsteht. Durch Erwärmen wird diesem Wasser entzogen. Der Pilzorganismus stirbt ab und übrig bleibt eine kompakte Struktur, die zu Bausteinen oder Dämmstoff verarbeitet und vollständig recycelt werden kann. „Ich glaube, dass dieses Material in Zukunft den Beton ersetzen wird“, wagt Martin Ostermann, Professor am Institut für Baukonstruktion, Universität Stuttgart, eine Prognose. Wie genau, das sei noch unklar. „Wir stehen erst am Anfang. Aber ich hoffe, dass in Zukunft das Materialangebot viel bunter und vielfältiger aussieht.“
Von Elke Hildebrandt